Dulfein. „Ein Liebesmärchen“


Feuilleton 'Das Schloß des Dulfeiners von Max Burckhard*

 

Wo jetzt schimmernd zwischen himmelanstrebenden Bergen die herrliche Stadt Innsbruck prangt und der Inn seine grünen Wellen durch lachende Fluren wälzt, da lag einst ein weiter See; düsterer Urwald, in dem altersgraue Baum­riesen und wucherndes Jungholz ein undurchdringliches Dickicht bildeten, bedeckte die Hänge der Vorberge, und schilfige Sümpfe erfüllten die höher gelegenen Thalmulden, in denen heute herrliche Matten freundliche Höfe umschließen.

Wo aber jetzt wild zerrissene Felswände schwindelnd empor­ragen und in den Schroffen und Steinhalden nur der leichte Fuß der Gemsen und Ziegen und der eisenumrahmte Schuh des Jägers oder Schäfers oder des kühnen Wanderers Halt findet, den die Sehnsucht nach der frischen, erquickenden Bergesluft und dem die Seele erhebenden Ausblick hinauf­ treibt auf die ragenden Höhen, dort prangten lachende Gärten voll der herrlichsten Rosen und immergrünender Sträuche.

Zerklüftet zieht sich der Rücken dahin, der den Kogel von Patsch mit dem steilen Gipfel des Glungezer verbindet. Dem Wanderer im Thale oder dem Manne, der im sausen­den Zuge das Land durchfliegt, scheint der Kamm wohl eine sanft geschwungene Linie zu bilden, und er mag denken, bequemen Schrittes oder gar auf dem Zweirade könnte man die Strecke von einem Gipfel zum andern durchmessen. Aber wollte er es versuchen, gar bald würde der eitle Wahn verschwinden. Über Schroffen und Schutthalden führt der Weg, und unter der Dulfeiner-Spitze lösen sich die scheinbar mit Matten geschmückten Hänge in eine wahre Wildniß übereinander­ gestürzter riesiger Felsblöcke. Hie und da hebt sich eine vom Sturme verkümmerte Fichte zagend aus dem Steingewirre hervor, und wucherndes Moos verkleidet mit trügerischer Decke die zwischen den Riesentrümmern gähnenden Spalten.

Dort unter der Dulfeiner-Spitze stand in der Zeit, von der ich euch erzähle, ein ragendes Felsenschloß inmitten der duftenden Gärten, und zu seinen Füßen, wo heute der Schwarzbrunn in seinen düsteren Gewässern das starre Bild der steinernen Wildniß zurückwirft, lag ein herrlich schimmernder See. Das Felsenschloß aber bewohnte der König von Dulfein, und sein Reich erstreckte sich, so weit sein Auge reichte, über Berge und Thäler, bis hin, wo die Felsen schwanden und Wälder und Sümpfe sich in endloser Ebene dahinstreckten.

Jahrtausende verstrichen, dem Könige von Dulfein flogen sie in gleichmäßigem Gange dahin. Friede und Frohsinn herrschten in seinem Geisterreiche, in der Wildniß der Thäler aber blieb es still und todt. Der See im Thalboden war kleiner und kleiner geworden, und endlich hatte ihn der nach­ drängende Wald zum flüchtigen Strome verengt. Riesen­bäume erwuchsen und stürzten nieder, andere erhoben sich an ihrer Stelle, die gewaltigen Leiber der Saurier und des Mastodons versanken im Schlamme, neue Gebilde schuf die ewig gebärende Mutter Natur, aber zu den lichten seligen Höhen des Dulfeiners reichte weder das wilde Gebrülle der in Liebesbrunst kämpfenden Ungeheuer noch das Todesröcheln derer, die dahinschieden, Raum zu geben für neue Geschöpfs.

Und wieder vergingen Zeiträume, und langsam erhob sich unten im Thale ein neues Regen. Es kribbelte und krabbelte gar seltsam an den Ufern des Stromes herauf. Helle Feuer erglänzten des Nachts, und bei Tage hallte der Klang des Steinbeiles durch die Wälder. Lichtungen ent­standen, wo sich früher der finstere Forst dicht zusammen­ geschlossen hatte, und kleine Hütten wuchsen aus den Hängen der Hügel heraus. Die Menschen waren ins Thal gezogen. Und größer wurden die Lichtungen, zahlreicher die Sied­lungen, immer in neuen und neuen Zügen drang es herein, der dumpfe Schlag des Steinbeiles wich dem helleren Klange der ehernen Axt, und gelegentlich widerhallten die Felsen vom Dröhnen der Waffen und den Rufen der Kämpfenden. Lange Reihen von Jahren schwanden vorüber,

der Dulfeiner aber achtete der Menschlein und ihres immer lauteren, regeren Treibens in den Thalgründen seines Reiches nicht. Und immer höher zogen die Hütten und Gehöfte die Lehnen der Berge hinauf, immer weiter drangen die Siedler empor auf die Kuppen der Vorberge und die hinter ihnen sich erschließenden Plane. Doch von den steil aufstrebenden Wänden der Felsen und ihren des Morgens und Abends in hellem Rothgold erschimmernden Firsten blieben sie ferne. Weide und Jagdbeute boten ihnen reichlich die Niederungen sowie die Matten und Wälder der sie umschließenden Hügel und dunkle Sagen von die Zaubergärten der Gipfel be­hausenden Wesen hielten sie in banger Scheu.

Da geschah es einmal, daß ein junger Jägersmann die Spuren einer Bärin die Höhen von Patsch hinauf ver­folgte. Immer weiter drang er empor, immer steiler durch Wald und Knieholz und über Schroffen und Klippen; jetzt brach er durch wirres Gestrüpp, das er kaum zu bezwingen vermochte, und plötzlich stand er in den Gärten des Dul­feiners, und die Zinnen des Schlosses, die vom Thale aus wie seltsam geformte Felsen sich angesehen, erhoben sich schimmernd vor seinen Augen, und rings um ihn prangten die herrlichsten dunklen Rosen, wie er sie noch nie geschaut. Schon wollte er scheu zurückweichen, da ging ein freudiger Schimmer über sein jugendfrisches Antlitz; rasch bückte er sich und brach einen Strauß der schönsten Blumen und dann, hui, ging es in jähen Sprüngen zum Thale hinab.

Der Dulfeiner war just mit seinem Wolkennachen ein wenig gen Süden gefahren, seine Muhme zu besuchen, die über die Eiswüsten des Stubai herrschte und auf den Riesenthürmen des Tribulaun in hellen Mondnächten den Reigen der Saligen führte. Kaum war er nach Hause zurückgekehrt, sah er sofort, daß die Hecken seines Gartens durchbrochen und seine Rosensträuche geplündert seien. Da erfaßte ihn grimmer Zorn; er warf einen finsteren Blick hinab ins Thal auf die Siedlungen der Menschen und be­schloß, den Frevel so zu strafen, daß Keiner mehr es wagen solle, hinaufzubringen in seine luftigen Höhen. Er hüllte sich in eine schwarze Wolke und brauste ins Thal hinab, Eis und Hagel um sich her über die Fluren streuend, Bäume, Hütten und Alles vor sich niederwerfend. Dann schnob er den Inn hinauf und hinunter, rings „ach den geraubten Blumen umherspähend. Da sah er unter einer Felswand einen jungen Jägersmann stehen, der sich vor­ dem Unwetter unter ihren Schutz geflüchtet hatte, und an dessen Haupt schimmerte ein dunkles Röslein aus dem Garten des Dulfeiners. Da faßte er ihn wirbelnd an, drehte ihn einigemale in der Luft herum und schleuderte ihn, nachdem er ihm das Blümlein entrissen, in die brausenden Fluthen des Inn hinein, die klatschend über ihm zusammen­ schlugen; noch einmal tauchte ein Arm hervor aus dem schäumenden Wasser, und das war das Letzte, was der Dulfeiner oder sonst wer von dem Jäger gesehen hat.

Der erste Zorn des Dulfeiners war verraucht, aber er wollte doch wissen, was aus seinen anderen Rosen geworden sei. Er sendete die Wolken, die ihn herabgetragen, wieder hinaus in die Berge und warf sich in die Gestalt des Jägersmannes, an dem er soeben sein Mütchen gekühlt hatte, sich gleich, diesem das Röslein keck übers Ohr steckend.

Höher und höher stiegen die Nebel, oben, von den Strahlen der Abendsonne durchbrochen, sich zerteilend und in den Wäldern und an den Spitzen der Berge verschwindend. Heiter und warm blinzle die scheidende Sonne ins Thal, und munter schritt der Dulfeiner, der sich in seiner neuen Figur gar nicht übel gefiel, durch den feuchtduftigen Wald. Tiefer sank die Sonne, und glitzend fuhren ihre Strahlen durch die Zweige der Föhren und Fichten und brachen sich leuchtend in den an ihnen hängenden Wassertropfen. Jetzt schimmerte es hell durch die Zweige, und der Dulfeiner trat aus dem Waldesdickicht auf eine im letzten Lichte der Sonne leuchtende Wiese. Ein kleines Häuschen stand am Saume des Waldes an einem Bache, der von den Bergen brausend herabgeeilt kam und sich im ebenen Wiesenboden, breite Mulden bildend, staute. Am Rande eines der Tümpel saß, hell vom roten Sonnenlichte umflutet, ein Mädchen, die Röcke geschürzt und die Füße in den kühlen Fluthen badend. Um ihr blondes Haar wob die scheidende Sonne einen feurigen Strahlenkranz, und vorne an ihrer unter grobem Linnen schwellenden Brust glühten die Rosen des Dulfeiners in tiefem purpurnen Roth.

In wildem Zorn schwollen dem Dulfeiner die Adern an der Stirne, und blitzenden Auges trat er an das Mädchen, das sich mit den ihm geraubten Blumen des Zaubergartens geschmückt, heran. Da traf ihn ihr Auge. Mit einem jubelnden Aufschrei sprang sie empor, die Füße aus dem Wasser schnellend, eilte ihm entgegen und stürzte an seine Brust, mit ihren Armen seinen Hals umschlingend und seinen Mund mit Küssen bedeckend. Da durchschauerte ein seltsames Gefühl den Dulfeiner. Ihm war's, als ob die Strahlen der Sonne in sein inner­stes Herz hineinschienen, und etwas, das er nie empfunden, erfüllte ihn mit sehnendem Bangen und zitternder Seligkeit „Heinrich, Heinrich," flüsterte der warme Odem des ihn umschlingenden Mädchens in seine Sippen, „O, daß du mir nicht mehr zürnest und daß du mein Flehen erhört, nicht nochmals das furchtbare Wagniß versucht hast! Was sind mir die schönsten Blumen der Welt! Dich hab' ich. lieb, dich, nur dich, nur dich. Ja, ich will dein sein, nimm mich hin." Und innig schmiegte sie ihre Wangen an seine Brust.

Der Dulfeiner wußte nicht, wie ihm geschah; seinen Arm um die Schultern des Mädchens geschlungen, schritt er langsam mit ihr durch den feuchten Wiesengrund zum Hüttlein am Waldesrand, und dort setzten sich Beide auf die rohgezimmerte Bank, die dem Dulfeiner viel weicher und herrlicher als sein feinster Wolkenthronsessel erschien. Das Mädchen hatte sein Antlitz an des Dulfeiners Brust ge­lassen, und leise strich er über die blonden Haare und die zarten Wangen und ward des Streichelns nicht müde. Der Mond stieg oben hinter dem Wald hervor und noch immer saßen sie schweigend beisammen. Und gleichmäßiger wurden die Atemzüge des Mädchens und der Dulfeiner sah, daß es sanft in seinen Armen eingeschlummert war. Feine Nebel waren aus der Wiese emporgestiegen, immer dichter woben sie ihre Schleier, und jetzt ballten sie sich hüllend um den Dulfeiner und die eng an ihn geschmiegte Jungfrau. Da zog er sie sachte empor und ließ sich mit ihr von den wallenden Nebeln hinauftragen, hoch über den Fluß und die Wälder, über Felsen und Klippen in sein ragendes Schloß.

Als nach seliger Liebesnacht die ersten Strahlen der Morgensonne schimmernd durch die krystallenen Fenster hereinblickten, rieb sich das Mädchen verwundert die Augen. Nicht in ihrem Kämmerlein in der engen Hütte ruhte sie auf dürftigem Lager, wie sie vermeint, sondern in prunken­dem Gemache auf schwellenden Kissen, und nicht ihr Heinrich war es, dem sie ihr Alles geschenkt, sondern in heißer Liebe brannten die Blicke des Dulfeiners auf ihrer Schönheit. Erschreckt fuhr sie empor. Leise zog er sie nieder. „Ich habe dich getäuscht," so sagte er, „habe dich in falscher Gestalt betrogen. Ich weiß, du hast ihm deine Liebe zugedacht, den ich in wildem Zorne zerschmetterte und dessen Leichnam die Fluten des Stromes jetzt schon weit hinausgetragen haben aus diesem Tale. Mir aber hast du deine Liehe wirklich geschenkt. Erhältst du es aufrecht, dein Geschenk, und willst du es erneuern, so sollst du mein liebes Weib sein und all diese Berge und Täler mit mir beherrschen, denn ich bin ihr König, der Dulfeiner. Wenn du mir aber zürnst und mich hassest, so kehre zurück unter deine Menschen mit reichen, herrlichen Gaben sollst du frei von dannen ziehen." Forschend beugte er sich über sie, und sein Auge blickte fragend in ihres. Da barg sie, von seliger Erinnerung übermannt, ihr Haupt nochmals an seiner Brust, und glühend zog der Dulfeiner sein Weib an sich.

Monde um Monde schwanden dahin, in immer innigerer Liebe wurde dem Dulfeiner das Herz seines Weibes zu­getan, und doch glitt nur selten ein Lächeln über ihre Lippen, und bleicher und bleicher wurden ihre Wangen. Und je näher die Zeit kam, der sie still entgegenharrte, um so selt­samer ward ihr in ihrem Sinne, und Stunden und Stunden lang konnte sie von einer Felsenzinne hinabblicken in die blitzenden Wogen des Inns, als suchte sie Jenen, den sie verschlungen. Endlich kam ihre Stunde, mit zitternden Armen vermochte sie selbst ein liebliches Mädchen dem Dulfeiner in die Hände zu legen, ein schwaches Lächeln huschte um ihre Lippen, ein Blick warmer, dankbarer Liebe strahlte aus ihren Augen, und dann war sie tot.

Da erfaßte den Dulfeiner wilde Verzweiflung, und schon wollte er das zarte Kindlein in seinen Händen, das ihn der Gattin beraubt, wütend zerschmettern - da sah er in dem kleinen Antlitz die lieben Züge seines verschiedenen Weibes und drückte das zarte Wesen unter Tränen an sein Herz. Tief in der Höhlung des Berges bettete er in krystallenen Sarge den teuren Leichnam und betraute die lieblichsten Saligen mit der Pflege des Kindes. Dann aber fuhr er im Sturme heraus aus den Klüften, erfaßte die Giebel und Zinnen des Felsenschlosses, daß es in seinen Grundfesten erzitterte und donnernd und krachend zusammenstürzte, die herrlichen Rosengärten in weitem Umkreise mit Riesentrümmern bedeckend. Er selbst aber schwang sich in die Tiefen der Schlünde und tat einen furchtbaren Schwur, nie mehr den schützenden Schatten der Erde zu verlassen, nie mehr ihren Boden zu betreten, nie mehr das helle Licht des Tages oder das milde Dunkel des nächtigen Himmels zu schauen, Wild in den Klüften tobend, und hausend suchte er seinen grimmen Schmerz zu übertäuben.

Und weiter rollten die Zeiten. Jetzt brauste der Sturm wetternd dahin über die wilden Felstrümmer, die sich einst zum Schlosse des Geisterkönigs gefügt hatten, Eis und Schnee zerfraßen ihre scharfen Kanten, und rieselnd zeichnete das Wasser in ihre Platten und Wände die seltsamsten Linien und Figuren, und dann tanzten wieder die Sonnen­ strahlen auf ihren Flächen herum, mit ihrem milden Schmeicheln unmerklich, aber sicher das Werk der Zerstörung fortsetzend, das ihre rauheren Bundesgenossen begonnen hatten. Hie und dort erwuchsen in den zerbröckelnden Spalten zartes Moos und kleine Blümlein, und mälig sprossen auch wieder einige Alpenröslein empor, freilich lange nicht so farbenprächtig und groß wie jene, die einst die lachenden Höhen geschmückt, und ohne jenen berauschenden Duft, der früher den Zaubergarten des Dulfeiners erfüllt hatte. Die Menschen aber im Thale hatten die Scheu vor den starrenden Höhen verloren, enger und enger war es ihnen im Thale geworden, und bis hinauf zu den Matten unter der wilden Trümmerwirrniß der Dulfeiner-Spitze trieb im Hoch­sommer der Hirte die weidenden Schafe.

Als einst wieder die Zeit gekommen war, die Thiere vom Thale hinaufzusenden auf den fetten, prangenden Wiesenboden, da hatte man zum Hüter einen jungen Bur­schen bestellt, begüterter Leute Kind, der um seiner seltsam träumerischen Art zu keiner anderen Arbeit sich recht ver­wendbar erwies und es sich selbst erbeten hatte, die Sommermonde dort oben in der stillen Einsamkeit, die Herde betreuend, verbringen zu dürfen. Da richtete er es sich nun gar herrlich ein. Zwei gen einander gestützte Felsblöcke boten ihm in der von ihnen umschlossenen Höhlung Schutz gen Unwetter und Obdach für die Nacht, und die sonnigen Tage verbrachte er im Grase liegend, die frischen, rothschimmern­den Wangen in die jugendlich schwellenden Arme gestützt und mit seinen hellen braunen Augen hinabblickend ins Thal, oder er kletterte in den Klippen und Schroffen umher, oder schritt über die Hänge dahin, die Schäflein, die sich zu weit entfernt hatten, wieder zur Herde zurücklockend.

In mondhellen Nächten aber konnte er stundenlang auf einem umgestürzten Steinblocke sitzen und hinaufstarren nach dem fernen Zinnen und Spitzen, und wenn es wie weiße Schleier über sie hinhuschte, dann schwoll sein Herz voll Sehnsucht und er glaubte die saligen Fräulein, von denen Großmutter ihm oft erzählt, dort oben ihre leichten Reigen schlingen zu sehen.

Als er eines Nachts wieder so dasaß auf seinem Felsen­ sitzender, in der Form einem  umgestürzten Königsthrone gleichend aus dem Wiesenboden herausragte, unverwandt nach den fernen Linien der Berge starrend, da war es ihm, als ob die lichten Streifen immer deutlichere Formen annähmen, immer klarer trat es heraus aus den verschwomme­nen Umrissen, immer näher zog es heran über die Rücken und Spitzen. Die Luft begann zu zittern und schwirren, ein süßes Gefühl schauernden Bangens ergriff ihn, und wie leises Klingen und Singen drang es an sein Ohr. Lang­sam schlossen sich seine Lider, aber vor den Augen der Seele rollten sich die herrlichsten Bilder auf, das Haupt sank in die Arme des Eingeschlummerten zurück, aber die wunderbarsten Melodien begannen in seinem Innern zu ertönen.

Und näher und näher zog es schimmernd heran, jetzt schwebte es um die nahe Kuppe der Dulfeiner-Spitze, und jetzt strich es die Hänge herab, und holde Mädchengestalten drehten sich kreisend an dem Schläfer vorbei. Seine Lippen lächelten im Traume, und mit sehnendem Seufzer hob sich seine Brust. Und weiter glitt der Reigen auf den Matten dahin, aber eine Gestalt hatte sich losgelöst aus der sich wiegenden Schaar. Und nun staub sie vor dem Felsblock und beugte sich staunend nieder über das jugendkräftige Menschenkind, das in langsamen Zügen die erquickende Nachtluft einsog und auf dessen Antlitz der Schimmer seligen Glückes lag. Und weiter schwang sich in leichten Wellen der Reigen, aber die Eine folgte nicht den luftigen Spuren der Gefährtinnen, sondern wie gebannt verharrte sie im Anblick des Schlummernden. Und jetzt bog es in verblassenden Streifen um ferne Gipfel und Hänge, und noch immer harrte lauschend die Eine im mondscheinschimmern­den Wiesengrunde. Und nun glitt sie empor an dem Königsthron, der einst stolz im Schlosse des Dulfeiners geragt, und löste leise Haupt und Arme des Jünglings aus dem harten Felsenkissen und barg sie lächelnd in ihrem weichen Schoße. So saßen sie, die Wachende und der Schlummernde, und das ganze Sehnen war ihr nun klar, das stets ihre Seele erfüllt hatte, wenn sie im Reigen der Saligen, denen der Vater sie beigesellt, die milden Sommernächte durch, kreisend, hinabgeblickt hatte auf die Stätten der Menschen. Und die Nacht, verstrich, an den fernen Zinken hob sich der grauende Morgen, glühend in feurigem Golde flammte es jetzt empor, und ein Schauer durchzuckte das Mägdlein. Wehmüthig lächelnd bog sie sich nieder über das Antlitz des Schläfers, und jetzt küßte sie innig seinen Mund. Und da er beseligt seine Arme erhob, wie eine Traumgestalt zu umschlingen, da löste sie sich los von ihm, in der dämmern­den Morgenluft verrinnend, und als er jetzt emporfuhr, war er allein, und die glühenden Strahlen des aufsteigen­den Sonnenballes zwangen ihn, die halbgeöffneten Augen rasch wieder zu schließen.

Des Dulfeiners zur holden, herrlichen Jungfrau er­blühtes Töchterlein aber mied von nun an die Reigen der Saligen. In den Grotten und Bogengängen im Schoße der Dulfeiner-Spitze trieb sie ihr Wesen, sehnsüchtig der Stun­den harrend, in denen sie unbemerkt ihm nahen konnte. Nächtlich bettete sie das Haupt des Schläfers in ihren weichen, schwellenden Gliedern, und auch die schimmernden Strahlen der Sonne scheute sie nicht, und wenn er des Tages im blumigen Wiesengrunde entschlummert war, glitt sie an seine Seite und barg sein Antlitz an der knospenden Blüte ihres jungfräulichen Leibes.

Da geschah es einmal, als sie so inmitten eines Kranzes duftiger Blumen ruhten, daß der flüchtige Fuß einer Gemse einen Stein von den Hängen der Dulfeiner-Spitze löste. Pol­ternd fuhr er herab und sprang hart an dem Schläfer vorbei. Jäh fuhr dieser empor, aber im nächsten Augenblicke um­schlang er in beseligendem Jubel das Traumbild, das ihm schon so oft gelächelt hatte und das er jetzt in seinen Armen hielt mit der siegreichen Ueberzeugung, daß es ihm nie mehr entschwinden werde.

Und die Tage verstrichen und die Nächte, und nichts störte das süße Glück der Liebenden. Nie wurden sie müde, sich das Eine zu sagen, daß sie sich lieben, unsäglich, unsagbar, unfaßlich, unfaßbar; Stunden und Stunden ruhten sie, Wange an Wange geschmiegt, oder Auge in Auge, oder Arm in Arm, und er fühlte den warmen, sehnenden Hauch ihres Atems in starken, regelmäßigen, verlangenden Zügen bis in den Grund seines Herzens dringen.

Ahnt ihr das nicht, ihr lieblichen Mädchen? Dann hüllt euch in den kalten Schein eure Tugend! - Kennt ihr das nicht, ihr schönen Frauen?" Dann bettet eure Männer in den Sarg! Des Dulfeiners Töchterlein aber hüllte sich in die Arme ihres Friedels und bettete ihn an dem weichen, warmen Grunde ihres Herzens, denn sie war kein Mädchen, sie war keine Frau, sie war ein Weib, ein liebendes, süßes Weib. Und Tage und Nächte verstrichen den Liebenden wie die Flügelschläge der Libelle, von denen die Weisen der Gegenwart behaupten, daß viele, viele Tausende die Minute, erfüllen. Und je mehr sie sich sahen, desto, lieber hatten sie sich, denn das ist das wahre Wesen der Liebe, daß sie wächst und wächst, und nur die erbärmlichen Toren, die keine Seele haben, sagen, daß die Liebe durch die Liebe schwindet.

Und in der zitternden Stille einer milden, schimmern­den Nacht, da hatte sie dem immer inniger in sie Drän­genden geoffenbart, wer sie sei, und daß sie, wenn der Sommer entschwinde, hier bleiben müsse auf den einsamen Höhen und zurückkehren in den Schoß der Berge. Er aber schüttelte lächelnd sein Haupt. „Nein," sagte er ruhig, „das kannst du nicht, das weiß ich. Du hast liebend in meinen Armen gelegen, und so bist du mein geworden für das ganze Leben. Ein Mägdlein wie du, das einmal einen Mann ge­liebt hat aus dem innersten Grunde seines Herzens, kann nie mehr von ihm lassen. Was ist uns der Groll deines Vaters? Ich fürchte die Rache des durch seinen eigenen Schwur in seine Felsenhöhlen gebannten Alten nicht, und für seine Liebe soll die meine dich tausendfach entschädigen.

Im Tal drunten, in einer kleinen Hütte oder, wenn du willst, weit draußen, in fernen Landen uns ein bergendes Heim schaffend, wollen wir glücklich, wollen wir selig sein. Ich weiß, wie ich mit keinem Könige tauschte um den Preis, von dir lassen zu müssen, wirst auch du dich nie nach deinen schimmernden Felsensälen zurücksehnen, sondern unverzagt als mein liebes treues Weib bei mir ausharren, was immer uns die Zukunft bringen möge." Da leuchtete es schimmernd auf in ihren hellen Augen, innig schlang sie ihre Arme um ihn, ihre Wange an seinen Nacken schmiegend. „Ja, du Lieber," sagte sie, „dein bin ich und nichts soll uns trennen - wie glücklich, wie stolz macht mich dein edles Vertrauen." Da steckte er ihr ein kleines, schmales, karges Ringlein, das er trug und das ihm die liebe Mutter kurz vor ihrem Tode gegeben, an den Finger, und dankend küßte sie ihm seinen Mund.

Und langsam entschwand der Sommer, Dem Jüngling aber bangte nicht. Er dachte nicht daran, was sein Vater sagen werde, nicht daran, was die anderen Menschen sagen werden, wenn er mit dem Elbenkinde ins Thal gezogen komme, er fühlte die feste Kraft in sich, siegreich der ganzen Welt zu trotzen, und auch dann verließ ihn keinen Augenblick sein sicheres Vertrauen, in die Geliebte, wenn sie, Verdacht zu vermeiden, länger in den Grotten und Sälen des Berges verweile als sonst.

Aber eines Tages trat sie blaß und bleich vor ihn hin und berichtete ihm in stammelnden Worten, der Saligen Eine habe ihr zugeraunt, die Sippen und Magen hätten dem Dulfeiner geschäftig zu Ohren gebracht, daß das Herz seiner Tochter einem Menschenkinde zugewendet, sein Innerstes habe sich empört und er sich verschworen, seine ganze Liebe zu ihr in wilden Haß zu verwandeln, sie für immer aus seinem Reiche zu verbannen und auszustoßen aus dem Reigen der Saligen, wenn sie ihrer Liebe nicht entsage. „Aber ich weiß ja," schloß sie, „er liebt mich zu sehr, das kann er nicht wollen; ich eile zu ihm und werde sicher sein Herz erweichen, auch er hat ja die Macht der Liebe an sich gefühlt und dann ziehst du mit mir in unser Reich zu seligem Glück."

Ernst und schweigend blickte sie der Jüngling an. „Und wenn du ihn nicht zu rühren vermagst?" - „Es muß, es wird mir gelingen.“ - „Und wenn nicht?" Da schwieg sie und ihre Augen mieden die seinen. „Und wenn nicht? Kehrst du auch dann zu mir zurück? Ich weiß, ich könnte dich jetzt überreden und mit mir fortreißen zu rascher Flucht. Aber frei aus deinem Innern mußt du dich mir geben, wenn wir wirklich Eins sein sollen fürs Leben. Also kehrst du zurück zu mir als mein liebes Weib, auch wenn er dich verflucht und verstoßt, wenn du vielleicht durch Not und Elend mit mir wandeln mußt, nur ein Glück ver­langend, das unserer Liebe?" Da sagte sie leise „Ja" und sah ihm tief in die Augen. Nochmals umschlang sie seinen Hals, und dann entwand sie sich flüchtig seinen Armen.

Und Stunden und Stunden entwichen und der Tag verstrich und die Nacht entschwand, und vergebens harrte er ihrer in wachsender Angst und Sehnsucht. Da faßte es ihn wie wilder Wahnsinn. Er durchkletterte die Klüfte und Schrunde und suchte den Eingang zu finden in das Innere des Berges, aber seine trüben Menschenblicke sahen nur Felsen und Felsen, wo für die Augen der Saligen sich glitzernd schimmernde Bogengänge eröffneten. Und wieder verging ein Tag und wieder eine Nacht, und immer sagte er sich, „es kann ja nicht sein, das kann sie ja nicht". Und ein dritter Tag und eine dritte Nacht war mit bleiernem Fluge dahingestrichen, aber er hielt fest in seinem Glauben an sie. Sinnend und sehnend saß er auf seinem Felsen­ throne und starrte wieder hinüber nach den fernen Firsten, von denen ihm zuerst ihr Bild in seine Seele geschwebt war. Und wieder sagte er, „nein, das kann sie nicht, ohne Abschied wenigstens kann sie mich nicht lassen, ohne noch einmal ihren Mund mir zum Kusse zu bieten, ohne mir ein letztes Lebewohl zu sagen".

Da hörte er plötzlich ein leises, schwaches Klingen, und als er vor sich niedersah, glitzte es schimmernd zu seinen Füßen im Gestein. Er bückte sich, und da sah er sein Ringlein liegen, das er ihr an ihren lieben Finger gesteckt, und wie ein leises Seufzen klang es herüber von den Felsenwänden. Da barg er sein Haupt in seine Hände und weinte bittere Tränen und schluchzte, daß es seinen ganzen Körper schüttelte. Er weinte aber nicht um sich, daß er sie, die sein Glück und sein Alles gewesen, verloren habe, er weinte um sie, daß sie nicht so sei, wie er sie sich in der liebenden Einfalt seines Herzens gedacht hatte. Und dann stand er auf, hob den Ring empor und schleuderte ihn gen die Felsen, daß er klingend zersprang, sammelte seine Herde und trieb sie erhobenen Hauptes zum Thale.

„Wenn euch aber einmal euer Weg in das herrliche Land Tirol an die lachenden Ufer des grünen Inn führte dann seht wohl staunend hinauf zu den der Spitze, wo einst das Schloß des Dulfeiners stand, aber hütet euch, ihren Zinnen kletternd zu nahen, daß euch nicht dort oben etwa das falsche Mägdlein verlockend begegne, das sein Herz den Freuden der Liebe eröffnen möchte, ohne die starke Seele zu haben, auch ihre Schmerzen ertragen zu können.

 

Von: Max Eugen Burckhard (* 14. 7. 1854, Korneuburg) , + 16. März 1912 in Wien).

Österreichischer Theaterdirektor, Kritiker, Schriftsteller und Rechtswissenschaftler. Von 1890 bis 1898 war er Direktor des k.k. Hofburgtheaters (Wiener Burgtheater).

 

Das ganze Feuilleton ist in der Neuen Freien Presse am 9. u. 10. März 1897 erschienen


Kurzversion

Die Sage vom Glungezerriesen

Wo heute die Tulfein Alm liegt, stand einst inmitten duftender Wiesen der Palast eines Hirtenkönigs, der dort mit seinen vier Töchtern lebte und sein Volk mild und segensreich regierte. Eines Tages brach in den Frieden dieses Hochtals eine Riese ein, der in der Nähe der Glungezerspitze eine Höhle bewohnte und in der Nacht oft so furchtbar brüllte, dass Lawinen und Muren losgerissen wurden und ins Tal stürzten. Als eines Tages der Riese die vier schönen Königstöchter sah, erfaßte sein rauhes Herz die Sehnsucht - er wollte eine der Prinzessinnen heiraten und trug seinen Wunsch dem König auf dem Tulfeiner Schloß vor. Der erschrak bis ins Herz hinein, als er die Bitte des hässlichen Riesen hörte, entgegnete ihm aber, dass er als Vater seinen Töchten ihrer Wahl ganz freie Hand lasse; gewinne der Riese die Zuneigung einer der Prinzessinen, dann sei er auch dem König als Eidam (Schwiegersohn) willkommen.

So brachte der Glungezer Riese, der sich so fein als möglich herausgeputzt hatte, seine Werbung vor. Die vier Königstöchter brachen in silberhelles Lachen aus, als sie den plumpen Riesen verliebte Worte stammeln hörten und schickten ihn wieder heim. Der abgewiesene Freier aber sann auf furchtbare Rache. In der nächsten Nacht wälzte er vom Glungezer haushohe Felsbröcke gegen Tulfein, die das Königsschloß samt dem Herrscher und den vier Prinzessinen an den Rand des Wildsees schoben, in dessen Fluten die Burg und ihre Bewohner versanken. Heute nennt man den Tümpel, der von jenem See noch übriggeblieben ist, den "Schwarzen Brunn".

Der Riese faßte nun, da seine Rache gekühlt war, tiefe Reue. Am Ufer des Wildsees saß er tage- und nächtelang und weinte bitterlich, vermochte aber die ertrunkenen Königstöchter nicht mehr zum Leben zu erwecken. Später wurde der Glungezer-Riese in ein eisgraues Bergmännlein verwandelt, das seine runzeligen Händchen sehnsüchtig ausstreckt nach den lichten Gestalten der vier Königstöchter, die als Salige über dem See schweben. Aber der Unglückliche vermag die Geistergebilde nicht zu erreichen und stürzt sich in seiner Verzweiflung in die Wellen, um die brennende Glut seines leidenschaftlichen Herzens zu kühlen.

 

Quelle: Die schönsten Tiroler Sagen, Karl Paulin, Innsbruck 1972