18.ooo Höhenmeter ans Meer


Auf der Suche nach einem „Abenteuer“ wollten meine Frau und ich eine „Trekkingtour“ vom Karwendel über den Alpenhauptkamm, aber nicht einfach über den Brenner, sondern über Gipfel, Grate, Jöcher, Täler und einen Dreitausender bis ans Mittelmeer unternehmen. Venedig hieß das Ziel unserer Bergträume. 

 

18.000 Höhenmeter ans Meer 

Was mag daran so reizvoll sein, statt vier Autostunden 21 Tage zu investieren und eine Strecke von ca. 250 km und 18.000 Höhenmetern bergauf und noch etwas mehr bergab über Stock und Stein, über Berg und Tal zu bewältigen? Wir wollten eine gewisse „satte Zeit“, drei Wochen, über Berge und Hütten bergsteigen. Nicht immer wieder vom Berg ins Tal absteigen müssen, sondern weiter kommen. Wir wollten damit für uns etwas Neues, ein „Abenteuer“ probieren; von dem wir nicht wussten, wie es zu bewältigen ist, wie es ausgehen und was es uns letztlich bedeuten würde. 

Strapazen mit Genuss 

Wir wollten erfahren, wie sehr man trotz täglicher Strapazen noch mit Genuss weiter gehen kann, wie weit einem die Füße über die Berge tragen; wie sehr man Alltagsballast und Zivilisationskomfort im Tal zurück zu lassen vermag, ohne das Gefühl zu haben, etwas Wichtiges würde einem fehlen. Wir haben diese Tour gut geplant und durchgeführt, mit allen Sinnen erlebt und mit tiefen Eindrücken genossen. 

Je besser Vorbereitung und innere Einstellung, je genauer selbst gesteckte Ziele formuliert sind, desto reicher die Ernte, was einem die Berge, der Weg und das Ziel an Eindrücken, Erfüllung und positiven Kräften zurückgeben. Darin sind auch die wunderbaren Wolkenstimmungen, die Felsen der Dolomiten und der Civetta, das satte Grün der Almen, die stille Landschaft der Tuxer Berge, die fruchtigen weintrunkenen Ebenen an der Piave ebenso wie das Knirschen des Meeresstrandes bei der Ankunft in Venedig und dessen unnachahmlicher Zauber inbegriffen. Damit belohnt man sich mehr als man erträumt. 

Vorbereitung bedeutet Training 

Zur „inneren Vorbereitung“ ist das einfachste und wirkungsvollste Training: zu Fuß gehen. 

Bewusst verzichten wir für bestimmte Strecken, z.B. den Weg ins Büro, auf das Auto oder Rad und gehen zu Fuß. So steigern wir stetig die Wegestrecken und bekommen rasch ein gutes Gefühl fürs Begehen längerer Routen. Auch das Zeitgefühl entwickelt sich dabei neu: Bald „spüren“ wir auch ohne Uhr genau, wie lange eine Stunde Gehen ist und wie weit man dabei kommt. 

Spätestens gegen 8.00 Uhr verlassen wir die Hütten für die nächste Etappe. Schon nach den ersten drei, vier Tagesmärschen wissen wir, dass wir eine schöne Strecke vor uns haben, die wir trotz ihrer Länge und Schwierigkeit, des Gewichts des Rucksackes, trotz Wetter, Hitze oder Kälte oder sonstiger Erschwernisse gut bewältigen werden. Es stimmt immer. 

Der Weg ist das Ziel 

Wir haben uns für die Tour drei Wochen Urlaub genommen und von Scharnitz über Hall nach Venedig ca. 21 Tage reserviert. Dabei sind Reservetage für Schlechtwetter oder zur Erholung eingeplant, oder auch ein, zwei Tage zum Genießen. Nichts von alledem. Der Weg ist das Ziel, und dieses wollen wir ohne Umwege erreichen, ohne Ruhetage, gleich, welches Wetter.  So halten uns auch Schneeregen in den Zillertalern und wolkenbruchartige Wetter und Hochwasser an der Piave nicht auf. 

Natur heißt nicht nur Sonnenschein, Natur ist nie eben und nie geradeaus. Auch das ist eine Erfahrung, dass Umwege und schlechte Wegverhältnisse dazugehören und man diese annehmen muss. Dann sind sie bewältigbar. Jede Etappe macht uns stärker, man baut auf, wird sicherer, kennt sich selbst immer besser, weiß, wie es dem Partner geht und wo allenfalls Grenzen sind.

Bergkristall als Talismann 

Es ist Ende August. Waltraud bestimmt das Tempo, gleichmäßig, trittsicher, zügig. Ich komme gelegentlich aus dem Takt, einmal, um zu fotografieren, einmal, um den Weg voraus zu schauen oder den Blick zurück zum Karwendel, zu den Zillertalern, später zu den Dolomiten und der Civetta, immer im Norden, noch einmal zu genießen. 

Am Geier in den Tuxer Bergen spähe ich links und rechts des Steiges scharf nach einem schönen kleinen Bergkristall aus. Ich finde drei, einen davon schenke ich Waltraud als Talisman. Wir tragen die drei Bergkristalle bis Venedig mit, um einen davon im Meer zu versenken und je einen wieder heim mitzubringen. 

Jeder Tag bedeutet neue Kilometer, Höhenmeter und lange Abstiege. Aber im Vertrauen auf das bereits Erreichte behält immer die Zuversicht die Oberhand, auch die nächste Herausforderung zu meistern. Auch verleiht die gewonnene Erfahrung zusätzlich „Flügel“. 

Stille klingt immer anders 

Wenn wir abends in den Hütten die letzte Etappe zurückverfolgen und sie noch einmal in vielen „Bildern im Kopf“ und in ausschmückenden Worten genießen, sind wir uns meistens im Staunen einig, welch lange Wegstrecke wir wieder zurückgelegt haben. Manchmal sehen wir noch den Gipfel des letzten Morgens als Ausgangspunkt und können es fast nicht fassen, wie weit man in einem Tag gehen kann. 

Den meisten Etappen ist eines gemeinsam, Ruhe. Und doch ist Stille nicht gleich Stille. Ob am Lafatscherjoch im Karwendel, am Glungezer, im Pfunderertal, auf der Boe, durch die Civetta oder am Nevegal bei Belluno wie danach in der Ebene, Stille ist immer auch geprägt von ihrer Umgebung, auch in den Dolomiten und in Venedig. 

Intensive Naturerfahrung 

Die Almen in der Lizum und am Kreuzwiesen atmen noch die spätsommerliche Fülle, der Klang des Almviehs begleitet uns lange; die Civetta strahlt die großartige, fast majestätische Ruhe der Felsen aus, hin und wieder vom Ruf oder dem Eisengeklirr eines Kletterers unterbrochen. Jede Landschaft hat ihren „Ton“ ihren „Klang“. Mit der Zeit tut sich uns „ein Ohr für die Stille“ auf. Nicht zuletzt dadurch, dass wir oft stundenlang eher schweigsam dahingehen; nicht, weil wir uns nichts zusagen hätten, sondern weil jeder Natur und Landschaft ganz für sich intensiv aufnehmen will; auch weil der Weg großteils viel Konzentration verlangt. Wir wollen ja nicht über einen Stein stolpern und so das Unternehmen gefährden. 

Das Singen eines Kammes 

Die Natur hat ihren eigenen Ton, den nur hört, der zu hören bereit ist. Das Rauschen des Waldes, eines Baches ist uns vertraut. Die Töne der Felsen, der Steine, der Almmatten und Weinberge, einer Quelle und der Schluchten, steiler Geröllhalden müssen wir erst hören lernen, so wie das „Singen eines Kammes“, eines Bergkammes. Wir finden sie einmalig. 

Berge zaubern tausende Bilder in unserem Kopf, die wir für immer speichern. Ich sehe mich noch genau zu jenem Edelweiß hinklettern, das uns in der Civetta beim Abstieg ins Auge sticht. Ich greife nach dem dunkelgrünen Serpentin am Geier und nach Bergkristallen. Das kleine Murmeltier am Bindelweg steht genau jetzt vor mir wie jene Gämsen, die uns unvermutet im Halltal und an der Friesenbergscharte begegnen. 

So fügen sich tausende Eindrücke zu einem fest gerahmten Bild von Landschaft und Natur, von Menschen und Gewohnheiten, von Wetter in allen Formierungen bis zum Horizont. Da sind die Masken-Souvenirs vom Markusplatz ebenso enthalten wie die Geltscherspalten der Marmolata, die Jochdohle auf der Pisciadu oder die Steinböcke vom Glungezer zum Rosenjoch und auf der Boé. Der Gletscherhahnenfuß am Geier, die Salzsteine des Halltals gehören dazu wie die Spitzenweine an den Hügeln der Piave, der Sand bei Jesolo, die Muscheln im Ristorante Punta Sabbioni ebenso wie die Knödel in der Lizum oder die Polenta im Rifugio Pian de Fontana. 

Als wir nach 21 Tagen mit unseren festen Bergschuhen in Jesolo ein klares Profil in den Meeressand drücken, ist dieses Gefühl unbeschreiblich. Das Ziel, aus eigener Kraft über tausende Höhenmeter und Wegemeter der Alpen das Meer zu erreichen, ist geschafft. Der Cappuccino am Markusplatz bleibt nur ein banaler Versuch, dieses Glücksgefühl als Summe der Ereignisse noch einmal auszukosten. Denn der Weg war das Ziel, der uns reich belohnt und die Seele tief beschenkt hat. ai©